Interview mit Manfred Kaderli

Interview mit Manfred Kaderli

IBAW

Die Tücken einer agilen Organisation

Von IBAW | 23.07.2019
Der Begriff der «agilen Organisation» ist in aller Munde. Die Organisationsform kann für ein Unternehmen eine grosse Chance sein, wenn die Tücken früh genug aus dem Weg geschafft werden. Agile Coach Manfred Kaderli zeigt auf, welche das sind.

Agilität? Ist das nicht wieder ein Management-Hype, mit dem sich Strategieberater ein goldenes Näschen verdienen? Die Frage ist berechtigt. Doch Agiliät ist nicht etwa eine erfundene Methode, sondern vielmehr eine Geisteshaltung: Es gibt keinen befehlenden Boss mehr, die Verantwortung liegt bei den einzelnen Teams, sogenannten Squads. Was ein bisschen nach Anarchie tönt, macht durchaus Sinn: Denn Mitarbeitende «an der Front» kennen die Bedürfnisse des Kunden oft viel besser, als der Manager, der sich um die Strategie kümmert. Dank agiler Organisationsform passt sich das Unternehmen schnell am sich verändernden Markt an und orientiert sich am Kunden und seinen Rückmeldungen.
Manfred Kaderli und seine Arbeitskollegen waren sich schon vor 20 Jahren einig, dass ihr Unternehmen nicht klassisch organisiert werden soll. Mit den eigenen Erfahrungen im Gepäck, berät der Agile Coach heute Unternehmen, die sich agil organisieren möchten. Im Interview erklärt er, weshalb es wichtig ist, die Mitarbeitenden früh genug ins Boot zu holen und wo weitere Tücken der Organisationsform liegen.

Agile Methoden gibt es viele, eine der bekannteren ist «Scrum». Welche kam in Ihrem Unternehmen «LerNetz» zur Anwendung und weshalb?
Wir haben uns von verschiedenen Methoden inspirieren lassen, dabei aber keine eins zu eins umgesetzt. Bereits bei der Gründung von LerNetz vor fast 20 Jahren kam bei uns eine Form der Selbstorganisation zum Tragen. Jedem Startup sind die evolutionären Gestaltungskräfte wichtig. Wir haben versucht, diesen Raum zu geben. Uns war es bereits zu Beginn ein Anliegen, dass jede Person das machen konnte, was sie gerne und damit meist auch gut macht. Fast gleichzeitig kamen Scrum  als Projektleitungsmethode und Beyond Budgeting für die Steuerungsprozesse zum Zug, da diese einen idealen Rahmen für unsere Unternehmenskultur boten.
Vor rund vier Jahren stellten wir fest, dass wir bereits «ziemlich selbstorganisiert» waren, aber anwendbare Anleitungen fehlten. Wir liessen uns durch Teaming nach Amy Edmondson und der Holokratie inspirieren. Beides waren nicht wirklich die richtigen Formen für uns. Glücklicherweise wurde in dieser Zeit die Soziokratie zu S3 weiterentwickelt, welche als modulares, flexibles und frei verfügbares Managementsystem die Basis für «unsere Form der Selbstorganisation» bot und heute noch bietet.
Bei der Projektumsetzung sind ausserdem heute Design Thinking und, in unserem Kontext, moderne didaktische Methoden nicht mehr wegzudenken.

Welche agilen Methoden eignen sich für welche Art von Unternehmen?
Für den Begriff «agil» sind leider viele verschiedene Interpretationen zu finden. Mir gefällt der Versuch einer Definition von Bernhard Bockelbrink:
«Eine Organisation ist dann agil genug, wenn sie:

  • nachhaltig (über den gewünschten Zeitraum)
  • mit glücklichen Mitarbeitenden
  • wertvolle «Produkte» herstellt.»

Agil zu sein bedeutet also mit zufriedenen Mitarbeitenden wertschöpfende Produkte, Dienstleistungen oder Wissen zu schaffen und wirtschaftlichen Erfolg im Wettbewerb zu haben. Mehr Agilität braucht es nicht und ist auch nicht erforderlich.
Um zur Frage zurück zu kommen: Ja, agile Methoden eignen sich für jede Art Unternehmen. Aber es gibt sicher nicht eine bestimmte Methodensammlung.

Macht eine agile Organisationsform in jedem Bereich oder Unternehmen Sinn?
Wenn die richtige Intensität und die richtigen Methoden gewählt werden, macht es vermutlich in fast jedem Unternehmen Sinn. Bedingung ist, dass die Mitarbeitenden auch entsprechend Zeit für die Auseinandersetzung mit den agilen Methoden erhalten. Zudem braucht es zwingend Offenheit, Lernbereitschaft und den Willen zur Verbesserung bei allen.

Welche Erfahrungen mit der agilen Organisation haben Sie im eigenen Betrieb gemacht? Wo lagen die Stolpersteine?
Die Stolpersteine liegen wohl immer an einem anderen Ort, sonst würde es diese nicht mehr geben. Was wohl immer unterschätzt wird, ist, dass die Mitarbeitenden den Wandel mitmachen müssen. Dies erfordert ein bestimmtes Mass an Auseinandersetzung mit agilen Methoden. Und dies bedeutet wohl fast immer einen grösseren Zeitaufwand als ursprünglich eingeplant wurde. Diese Zeit muss dann natürlich auch aufgebracht werden können.
Aus meiner Sicht ist es zudem wichtig, dass die Führungskräfte beim Übergang eine wichtigere Rolle spielen als sie vielleicht einnehmen möchten, vielleicht sogar wichtiger als in jeder anderen Organisation. Denn die soziale Gestaltungsfunktion innerhalb einer selbstorganisierten Unternehmung kommt wesentlich den Führungskräften zu.

Ging der Wandel zur agilen Organisation beim LerNetz einfach vonstatten?
Der Start war relativ einfach, schwieriger war es, nach den ersten Stolpersteinen nicht gleich wieder in alte Muster zurückzufallen.

Wie hat sich das Betriebsklima verändert? Was haben Sie in anderen Firmen beobachtet?
Das Betriebsklima verändert sich nur sehr langsam und es gibt sehr viele andere Elemente, welche das Betriebsklima schneller und grundlegender beeinflussen können. Es braucht viel Zeit und ist ein Prozess, der eigentlich nie abgeschlossen ist. Die Kultur für eine ständige Verbesserung der Organisation zu schaffen und beizubehalten, ist eine dauerhafte Aufgabe.

Wie wird Innovation in einer agilen Organisation sichergestellt?
Im optimalen Fall stellt die Selbstorganisation das Vorantreiben von Innovationen sicher – dieser Anspruch steckt in der Selbstorganisation. Wir haben uns zusätzlich von einer agilen Methode inspirieren lassen, der Adobe Kickbox welche ja inzwischen auch über Open Source verfügbar ist.

Wo liegt der Mehrwert einer agilen Organisation in einem Unternehmen?
Unsere Umwelt verändert sich, wird komplexer und schneller. Es wird schwieriger, Voraussagen über Entwicklungen von Märkten, Technologien und Nutzerverhalten zu stellen. Agile Organisationen bieten eine höhere Reaktions- und Anpassungsfähigkeit, weil alles darauf ausgelegt ist, flexibel auf Kundenwünsche zu reagieren und Kunden zufrieden zu machen.

Nokia hat das Smartphone verschlafen, Kodak die Digitalkamera und Warenhäuser den Onlinehandel: Navigieren Unternehmen dank agiler Organisation zukünftig weniger blind durch die Wirtschaftswelt?
Agilere Teams hätten wohl schon etwas bewirkt. In all diesen Fällen scheiterten die Firmen aber nicht in erster Linie an der Agilität sondern an der digitalen Transformation. Während Startups bei der digitalen Transformation fast nur gewinnen können, sind etablierte Unternehmen wohl immer in der Gefahr, neuen Produkten nicht genug Raum zu geben, weil sie ihren Ruf gefährden könnten oder sie die Position der eigenen Produkte nicht schwächen möchten.
Manfred Kaderli ist Mitbegründer der LerNetz AG. Als Agile Coach begleitet er schweizweit Unternehmen bei der Umstrukturierung ihrer Organisationsform.

Autor
Christian Büeler
Christian Büeler