Evolution von Organisationsformen

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Wie die Soziokratie zur Holokratie
führte und sich selber neu erschuf

Von Iwan Müller | 27.01.2020
Damit Unternehmen auch langfristig erfolgreich unterwegs sein können, ist es unumgänglich, dass sie ihre Projekte und Produkte möglichst effizient planen und umsetzen können. Dabei helfen agile Arbeitsweisen, agile Methoden und agile Organisationsformen. Zwei Modelle waren und sind hier wegweisend: Die Holokratie und die Soziokratie.

Organisationsformen sind einem steten Wandel unterworfen. Flache Hierarchien in Unternehmen sind schon längst keine Seltenheit mehr – viele Unternehmen haben ihre Strukturen angepasst, Hierarchiestufen zusammengeführt und flachere Hierarchien erzeugt. Doch wie kam es soweit? Schon in den 70er Jahren legte ein Organisationsmodell hierfür den Grundstein: Die Soziokratie. Aus ihr ist die Holokratie hervorgegangen, welche die Grundlagen für die Soziokratie 3.0 legte.

Soziokratie – die Basis der Selbstorganisation

Gerhard Endenburg führte in seiner Unternehmung 1970 eine neue Organisationsmethode ein, welche auf vier Grundprinzipien aufgebaut war:

  1. Der Konsent ist grundlegend für die Beschlussfassung
  2. Organisation in Kreisen
  3. Doppelte Verknüpfungen zwischen den Kreisen
  4. Die Kreise wählen die Personen für Aufgaben und Funktionen
Daraus entstand die Organisationsmethode Soziokratie 2.0, welche jedoch kaum bekannt war und nur von wenigen weiteren Unternehmen eingeführt wurde.

Holokratie – die Weiterentwicklung
der Soziokratie 2.0

US-Unternehmer Brian Robertson definierte auf Basis der Soziokratie 2.0 das Prinzip der Holokratie (engl. Holocracy). Umgesetzt wurde diese erstmals in seiner Firma Ternary Software Corporation. Bei dieser Organisationsform sind insbesondere folgende Punkte von Bedeutung:

  • Transparenz
  • Arbeiten mit Prinzipien -> Rollenbasierend
  • Lösungsorientiertes Denken und Handeln
  • Lernende Organisation

Mit diesen Faktoren ist es möglich, dass sich die Organisation automatisch selber verändert und optimiert – je nach eigenen Anforderungen. Dazu ist es zwingend notwendig, dass alle Personen ein konsequentes, lösungsorientiertes Denken und Handeln mitbringen.

Ein holokratisch organisiertes Unternehmen arbeitet mit Circle-Gruppen um Erfahrungen auszutauschen und mit klar definierten Rollen. Meetings werden dank Priorisierung der einzelnen Aufgaben der Teilnehmenden sehr effizient durchgeführt. Dazu werden die Meetingthemen immer im Vorfeld definiert, konkrete Ziele eines jeden Teilnehmers werden zum Start sichtbar gemacht und nach anschliessender Priorisierung abgearbeitet. Dies führt zu einer klareren Meetingstruktur und effizienteren Abwicklung.

Kernmechanismen der Holokratie

Unternehmen, welche die Holokratie einführen möchten, werden diese am Stichtag (BigBang) umsetzen – ganz unter dem Motto «ganz oder gar nicht». Für die Umsetzung gilt es, ein spezifisches, zentrales Regelwerk (die Holokratie-Verfassung) einzusetzen. Das Regelwerk ist unter einer offiziellen Lizenz verfügbar und wird in fünf Kapitel unterteilt:

  1. Rollen füllen
  2. Kreisstruktur
  3. Governance-Prozess
  4. Operativer Prozess
  5. Adoption Matters (Inkraftsetzung)

Kernmechanismen dabei sind

  • Organisation in Kreisen (Circles)
  • Doppelverknüpfungen (Links) zwischen den Kreisen sind notwendig
  • Freie Rollendefinitionen
  • Integrative Entscheidungsfindung

Die Holokratie wird von verschiedenen Firmen wie z.B. Freitag oder verschiedenen Umweltbewegungen eingesetzt und wirkt auf den ersten Blick sehr offen und anpassungsfähig. Bei detaillierter Betrachtung fällt jedoch auf, dass sie ein hohes Mass an Formalisierung mit sich bringt. Die Holokratie ist eine geschützte Marke und ein Anbieter, welcher Unternehmen in der Umsetzung begleitet. Die Unternehmen müssen offizielle Trainings durchlaufen, was zusätzliche Kosten zur Folge hat.

Dadurch ergeben sich insbesondere folgende Nachteile:

  • Sehr technokratisch
  • Aufwendig
  • Nicht menschenorientiert
  • Praktisch nicht umsetzbar -> insbesondere in grösseren Unternehmen
  • Viele Rollen -> diese müssen unbedingt und konsequent eingehalten werden
  • Zu formalisiert/unflexibel
  • Kommerzialisiert und teuer

Unternehmen, welche sich an die Holokratie herantasten, haben immer wieder dieselben Grundprobleme: mangelnde Karrieremöglichkeiten der Angestellten, Gehaltsstrukturen sowie informelle Hierarchien, welche sich nach einer Umstellung von selbst bilden.

Von der Holokratie zur Soziokratie 3.0

Wie erwähnt, ist die Holokratie sehr aufwendig in der Umsetzung und die Rollen müssen konsequent umgesetzt und eingehalten werden. Aus den Erfahrungen und Fehlern aus der Holokratie sowie unter Berücksichtigung von Agile und Lean ist die Best-Practice-Sammlung Soziokratie 3.0 entstanden.

Soziokratie 3.0 (S3) bietet eine sehr umfangreiche Sammlung von Möglichkeiten und Ideen (Muster), welche Unternehmen individuell einsetzen können. Damit wird ermöglicht, die Produktivität, Effizienz, Zusammenarbeit und Zufriedenheit messbar zu verbessern.

Soziokratie 3.0 – eine Definition

Soziokratie 3.0 zeichnet sich insbesondere durch folgende Punkte aus:

  • Hohes Mass an Flexibilität, Anpassbarkeit
  • Freie Verfügbarkeit
  • Kontinuierliche Weiterentwicklung
  • Stark steigende Verbreitung

Die Soziokrate 3.0 besteht aus 7 Grundwerten und 69 Bausteinen (Patterns). Diese können individuell zusammengesetzt und in das Unternehmen eingeführt resp. von diesem benutzt werden.

Als Nachteil wird insbesondere das benutzte Vokabular bezeichnet – dieses ist insbesondere am Anfang etwas gewöhnungsbedürftig – mit der Zeit gewöhnt man sich jedoch daran.

Sowohl bei der Holokratie als auch bei der Soziokratie sind Themen wie Werte, Kultur und Kommunikation zentrale Bausteine um eine erfolgreiche Transformation zu erzielen. Sie erhalten dadurch eine noch grössere Bedeutung.

Fazit: Vor- und Nachteile der
beiden Organisationsformen

Die Holokratie versteht sich als Gesamtsystem, welches neu erlernt werden muss und nur als Ganzes in die Unternehmung eingeführt werden kann. Zusätzlich fallen Lizenzkosten für das System als auch für die Begleitung während der Einführung an.

Die Soziokratie hingegen ist offen und für die Unternehmen jederzeit anwendbar – unabhängig vom Stand der Organisation. Die Muster, welche für die Unternehmung sinnvoll sind, können nach Bedarf eingesetzt und eingeführt werden. Nach der Umsetzung kann – je nach Erfahrung – entschieden werden, weitere Muster einzuführen oder wieder einen Schritt zurückzugehen. Bei der Einführung von neuen Mustern kann es helfen, einen internen Begleiter z.B. einen Agile Coach als Rolle zu definieren – dieser kann die Unternehmung dann aktiv in der Anpassung begleiten.

Autor
Iwan Müller