Agiles Arbeiten im Team
Agile Organisation
IBAW

Gesund fürs Unternehmen – und für die Mitarbeitenden?

Von Luzia Popp | 07.01.2021
Schneller vorwärtskommen, produktivere Teams: Unternehmen erhoffen sich viel von der Umstellung auf agile Organisation. Ist diese neue Arbeitsform auch gesund für die Beteiligten? Wir fragen nach.

Nachgefragt haben wir in der Klasse, die vor einiger Zeit die Ausbildung zum «Agile Coach NDK HF» am Institut für berufliche Aus- und Weiterbildung (IBAW) gemacht hat. Vier Personen waren bereit, auf die Fragen zu antworten. Sie haben alle die Ausbildung abgeschlossen und arbeiten in Unternehmen, die jetzt agil organisiert sind: Ben (29), Laura (48), Stefan (51) und Vera (28).

Was ist bei der Arbeit besser seit der Umstellung auf die agile Organisation?

Stefan: Ich trage mehr Verantwortung, habe mehr Abwechslung.

Ben: Auch bei mir ist Verantwortung dazugekommen und ich kann meine Ideen jetzt besser umsetzen. Die Entscheidungswege sind kürzer geworden, die Flexibilität gestiegen.

Vera: Endlich Homeoffice und flexibleres Arbeiten. Jetzt kann ich mir meinen Arbeitsort und die Zeiten freier einteilen. Als Team können wir vieles selbst entscheiden, schnell und einfach, so sind wir effizient. Ich schätze es, dass neu die involvierten Personen entscheiden, so kommt es seltener zu Fehlentscheiden. Und als Team finden wir Lösungen, die sich auch gut umsetzen lassen. Früher war ich unterfordert und war nicht immer voll ausgelastet, das gibt’s jetzt nicht mehr – im Grossen und Ganzen bin ich zufriedener. Positiv finde ich auch, dass ich für Meetings nicht mehr zwingend vor Ort sein muss, sondern virtuell dabei sein kann.

Laura: Meine Arbeit ist interessanter geworden. Wir haben alle Rollen im Team neu verteilt: So sind neue Aufgaben dazugekommen, andere habe ich abgegeben. Schon früher hat unser Chef auf Eigenverantwortung gesetzt und wenig Aufgaben zugeteilt.

Ist agil gesund?

Vera: Naja. Die Zeit nach der Umstellung war für mich überhaupt nicht gesund. Ich kam an mein Limit, das hat sich auch im Privaten bemerkbar gemacht. Inzwischen läuft es ganz gut, ich finde es sehr befriedigend, meine eigene Chefin zu sein. Wir sind eine gute Mannschaft und motivieren uns gegenseitig, das macht enorm viel aus.

Stefan: Meine Zufriedenheit ist gestiegen, allerdings gleichzeitig auch der Druck und die Belastung. Diese Frage ist schwer zu beantworten.

Ben: Wir sind flexibler geworden und teilen die Aufgaben nach unseren Skills auf. So steigert sich die Zufriedenheit, was sich sicher positiv auf die Gesundheit auswirken kann. Zugleich kann die höhere Verantwortung zusätzlichen Stress verursachen.

Laura: Grundsätzlich ja, ich bringe mich aktiv ins Team ein, das habe ich schon vor der Umstellung so gemacht. Ich kann weiterhin sagen: Meine Arbeitsweise ist gesund.

Wirkt sich agil auf deine Work-Life-Balance aus? Wenn ja, wie?

Ben: Ich würde sagen «mehr Life und mehr Work». Durch die flexiblen Arbeitszeiten nehme ich eher mal ein paar Freitage am Stück. Gleichzeitig trage ich jetzt mehr Verantwortung, wodurch sich meine Präsenzzeiten verlängern. Ich denke, auf jede einzelne Person kommt mehr Arbeit zu.

Laura: Vor ein paar Jahren hatte ich einen Unfall, seither begleiten mich einige Beschwerden. Deshalb achte ich schon lange besonders gut auf einen gesunden Ausgleich zum Job. Die Umstellung war für mich eine Challenge. Es gab sehr viel zu tun, dazu die neuen Aufgaben. In dieser Zeit kam die Erholung eher zu kurz. Bisher war meine Arbeit noch selten Routine: Erst gab es personelle Wechsel, kurz darauf kam Corona und somit die ersten Einschränkungen.

Stefan: Es hat sich vieles geändert, doch einen Effekt spüre ich nicht, weder positiv noch negativ.

Vera: Das Arbeiten im Homeoffice und die flexible Planung lassen mir mehr Freiraum im Arbeits- und Privatleben, was ich sehr geniesse. Gleichzeitig bin ich besser erreichbar als zuvor, auch übers private Smartphone, und kann seltener abschalten. Abends bin ich oft nudelfertig, doch wenn der Tag gut gelaufen ist, bin ich auch sehr zufrieden.

Wie hat sich die Belastung, der Stress bei der Arbeit geändert?

Laura: Durch die neue Rollenverteilung sind die Zuständigkeiten im Team ganz klar aufgeteilt. Ich habe genau die Rolle, die ich mir gewünscht habe und sie entspricht meinen Stärken: Organisieren, koordinieren, planen und dabei die Zeiten einhalten. Gestresst fühle ich mich nicht, doch die Belastung hat zugenommen. Ob das mit der agilen Organisation oder mit meiner neuen Rolle und ihrer Verantwortung zusammenhängt, kann ich schwer sagen. Ich arbeite in zwei Teams, wechsle oft zwischen verschiedenen Aufgaben und Themen hin und her. Es braucht Energie, sich jeweils in die Sache einzudenken.

Ben: Bei mir hat sich die Arbeitsbelastung deutlich erhöht. Die Flexibilität macht es möglich, schneller auf neue Anforderungen zu reagieren. In Kombination mit der Verantwortung kann das zu höherer Belastung beitragen. Ich denke, es ist Charaktersache, wie man mit diesem Stress umgeht oder ob daraus überhaupt Stress entsteht.

Stefan: Die Belastung im Team ist gestiegen, der Stress hat eher zugenommen.

Vera: Ja, auch bei mir: Beides hat definitiv zugenommen! Man springt viel mehr für andere im Team ein und nimmt sich gegenseitig Arbeit ab. Das ist toll für den Teamspirit, doch nicht immer gut für mein Stresslevel. Das erste Jahr war wirklich sehr anstrengend, ich habe noch selten so viel Überzeit gemacht. Früher konnte ich immer alles bis Tagesende erledigen, heute gelingt mir das eigentlich nie. Ich musste wirklich lernen, damit umzugehen, und auch mal Arbeiten liegen zu lassen.

Denkst du, agil hilft gegen Frust oder Lustlosigkeit am Arbeitsplatz?

Vera: Jein. Der Frust und die Lustlosigkeit lagern sich einfach um. Ich war früher tatsächlich unterfordert und deswegen lustlos. Doch wer viel Stress hat, kann genauso frustriert sein. Abwechslungsreiche Arbeit verhindert grundsätzlich, dass man die Lust daran verliert. So ist es zumindest bei mir.

Ben: Ja, denn Aufgaben, die einem nicht liegen, kann man nach Rücksprache mit dem Team abgegeben. So sind wir sicher, dass alle die Arbeit machen, die ihren Fähigkeiten entspricht. Das macht zufrieden.

Laura: Mir geht’s genauso: Wenn ich die Rolle ausübe, die mir liegt und die ich gerne mache, ganz klar ja. Wenn die Rollenzuteilung nicht passt, dann ist das bestimmt frustrierend.

Stefan: Ich bin glücklich mit meinen Aufgaben, meine Zufriedenheit hat sich positiv verändert. Ich denke schon, dass Agilität gegen Frust und Lustlosigkeit hilft.

Laura: Wenn jemandem Werte einer agilen Organisation nicht liegen, dann geht es der Person in einem solchen Unternehmen wahrscheinlich nicht gut. Ich denke zum Beispiel an Selbstverantwortung, Mut, Ehrlichkeit, Vertrauen und Transparenz. Und man muss Teamplayer sein, ganz klar.

Die Aufgaben werden priorisiert und alle sehen, wer woran ist. Wie findest du das?

Stefan: Transparent und somit absolut in meinem Sinn.

Vera: Ich sage stets: «Ich habe keine Geheimnisse, mich kann man alles fragen.» Deswegen habe ich kein Problem mit Transparenz. Es ist doch viel besser so, als wenn man sich fragt, was jemand den ganzen Tag so treibt. Im Alltag finde ich die Umsetzung schwierig, da bei uns oft kleine Arbeiten anfallen, deren Erfassung in einem Tool ein zu grosser Aufwand wäre.

Laura: Super! Alle wissen jetzt, was bereits erledigt ist, wo wir stehen. Die Organisation ist klarer, die Verantwortlichkeiten sind besser geregelt. Für mich ist das eine sehr nützliche Methode für Projekte: Wir bilden Projektgruppen und ich habe die Termine im Blick, sehe gleich, was abgeschlossen ist oder eben noch ansteht.

Ben: Das finde ich sinnvoll. Gerade bei Engpässen kann man sich gegenseitig Unterstützung anbieten. Es fällt mir jetzt leichter, jederzeit Auskunft über den aktuellen Stand meiner Projekte zu geben.

Agiles Arbeiten im Team

Lässt agil Raum für Kreativität? Oder schafft er sogar neuen Raum dafür?

Stefan: Auf jeden Fall! Die Verantwortung und die Umsetzung der Ziele erfordern viel Eigeninitiative, dazu ist Kreativität gefragt.

Laura: Ob Kreativität gefragt ist, bestimmt eigentlich meine Rolle. Aber ja, agiles Arbeiten ist kreativ, wir entwickeln neue Produkte für unser Portfolio. Dabei wenden wir oft die Methode Design Thinking an. Mut, kalkuliertes Risiko und eine gute Fehlerkultur gehören für mich zum agilen Mindset.

Vera: Das würde ich schon behaupten. Bei uns im Team sprudelt es manchmal so richtig vor Ideen, bis es überschäumt. Es gibt jetzt viele neue Gefässe, in denen wir Ideen diskutieren und darüber entscheiden. Die beteiligten Personen haben alle unterschiedlichen Rollen und bringen ihre Ansichten ein, das führt ganz klar zu kreativen Lösungen.

Ben: Ja, definitiv beides.

Die Umstellung ist eine Veränderung, wie gehst du damit um?

Ben: Ich mag Änderungen, Herausforderungen und Abwechslung. Deshalb fällt es mir nicht schwer umzustellen.

Vera: Ich habe selbst festgestellt, wie sehr ich mich in diesen eineinhalb Jahren verändert habe. Das ist gut so, denn Veränderungen gehören zum Leben. Sie sind notwendig, sonst bleibt man an einem Punkt stehen – und kommt nicht mehr weiter.

Stefan: Veränderungen sind doch ein Schlüsselfaktor in der heutigen Arbeitswelt, ebenso in agilen Organisationen. Offenheit und Begeisterung sind wichtige Punkte für den Umgang mit Veränderungen.

Vera: Ist es nicht eine reine Kopfsache? Die Veränderungsbereitschaft muss da sein, man sollte sich darauf einlassen. Mir blieb ja auch keine Alternative, deshalb mein Tipp: Akzeptieren und das Beste daraus machen.

Laura: Über die Umstellung habe ich mich extrem gefreut. Der Start war etwas chaotisch, rückblickend würde ich aus Sicht des Unternehmens einiges anders machen. Was heisst es, agil zu arbeiten? Und wie funktioniert das? Dieses Wissen war beim Start nur unzureichend vorhanden. Ich mag Veränderungen, doch mir ist auch bewusst, dass es Zeit braucht, bis wir alle das passende Mindset, die Mentalität, entwickeln.

Agil heisst auch «eifrig und schnell», fühlst du dich dadurch manchmal unter Druck gesetzt?

Vera: «Eifrig und schnell» setzt mich nicht unter Druck, weil ich eh so ticke. Und wenn ich etwas nicht so schnell wie gewünscht erledigen kann, sage ich das offen, damit habe ich kein Problem.

Ben: Manchmal wird agil mit ad hoc verwechselt. Agil bedeutet nicht, dass alles unmittelbar erledigt sein muss, sondern, dass wir zügig auf neue Situationen reagieren können. Trotzdem kann durch diese Anforderungen erhöhter Druck entstehen.

Stefan: Nein, nicht der Agilität wegen, sondern weil dies eh meiner Mentalität entspricht.

Laura: Für mich heisst agil eher «flexibel-sein». Und «schnell» heisst nicht «schnell schaffen», sondern die Werkzeuge zu nutzen, die den Prozess schneller machen. Wichtig ist, dass man auf Änderungen reagieren kann. Ich fühle mich nicht unter Druck und merke, wir sind schneller am Ziel, können Entscheidungen schneller umsetzen. Doch agiles Arbeiten ist nicht immer einfach und schön. Unstimmigkeiten im Team melden wir nicht einer Vorgesetzten, wir sprechen es schnell an und klären es. Zu dieser offenen und transparenten Kommunikation gehört es auch, unangenehme Dinge anzusprechen.

Würdest du in Zukunft lieber agil oder wieder konventionell arbeiten?

Laura: Ich möchte agil bleiben, so kann ich meine Arbeit selbst einteilen und wir entscheiden gemeinsam als Team, was richtig für uns ist. Für mich stellt sich die Frage nicht, ob ich agil arbeiten möchte. Ich sehe das als den logischen Schritt im Umgang mit der zunehmenden Komplexität. Die Arbeitsweise passt zu unseren Werten, die sich verändert haben.

Stefan: Agil.

Ben: Ja, agil.

Vera: Agil – mit Ausrufezeichen! Ich arbeite sehr selbstständig und brauche keinen Vorgesetzten, der mich dirigiert. Agilität ist für mich ein andauernder Prozess, es gibt keinen Tag X, nachdem alles anders ist. Erst muss man den Schalter in der eigenen Hirnzentrale umkippen, erst danach ist agiles Arbeiten möglich. So eine Umstellung ist wirklich anstrengend und zehrt an den Kräften. Es ist schwierig, seine Batterien wieder aufzuladen. Trotzdem würde ich diesen Weg wieder wählen, ihn aber anders gehen.

 

Unsere GesprächspartnerInnen waren bereit, sehr offen über ihre Situation zu sprechen. Da manche Fragen sehr persönlich sind, verwenden wir in diesem Beitrag Pseudonyme anstelle ihrer echten Namen.

 

In einem weiteren Beitrag analysiert Sandro Dönni, IBAW-Dozent für die Ausbildung Agile Coach, die Aussagen unserer Interviewpartner*innen. Er beantwortet aus seiner Sicht die Frage: Wie gesund ist agiles Arbeiten?

Teil 2: Ist agiles Arbeiten gesund?

Autorin
Portrait Luzia Popp
Luzia Popp
Marketing/Kommunikation