Digitalisierung und Innovation: Reto Lipp im Interview

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«Die Umsetzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in Produkte muss sich beschleunigen»

Von Fridel Rickenbacher | 29.06.2018
Digitalisierung, Innovation, Cybersecurity und Privatsphäre haben massgeblich an Relevanz gewonnen. SRF- und Eco-Moderator Reto Lipp teilt im Interview seine Einschätzungen zu diesen Trendthemen.

Die digitalen Entwicklungsschübe haben alle Lebensbereiche erfasst. Industrie 4.0 ist in aller Munde. Die Digitalisierung aller Arbeits- und Lebensbereiche erfordert integrierte und robuste Strategien und Prozesse. Ist die Schweizer Wirtschaft genügend robust und resilient dafür?

Reto Lipp: Die Schweizer Wirtschaft ist gut aufgestellt, um die Herausforderungen der Digitalisierung zu meistern. Gerade der starke Franken erhöhte den Druck auf die Firmen, effizienter zu werden. Das hat viele Firmen dazu gebracht, diese Veränderungen offensiver anzugehen oder zumindest die neuen Chancen gerade auch im IT-Bereich neu auszuloten. Wenn man unter Druck ist, sucht man oft neue Wege. Und das ist in den letzten Jahren auch wirklich geschehen.

 

Die Schweiz schafft es in einem neu entwickelten Index über «Digitale Innovationsfähigkeit» nur auf Rang 8 unter 35 OECD-Ländern. In anderen Innovationsrankings belegt die Schweiz fast immer Spitzenplätze. Weshalb bei der Digitalisierung nicht?

Das wundert mich nicht – die Schweiz ist sehr innovativ in der Grundlagenforschung. ETH und Universitäten bringen wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse hervor, da sind wir weltweit spitze. Weniger gut aufgestellt ist die Schweiz, wenn es darum geht, diese Erkenntnisse in marktreife Produkte umzusetzen. Die Kommerzialisierung von neuen Erkenntnissen geht eher langsamer voran als in anderen Ländern. Die Umsetzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in Produkte muss sich beschleunigen. Da helfen natürlich auch Start-ups, die sich vermehrt und erfolgreich im Umfeld von ETH und Universitäten ansiedeln oder von ehemaligen Studenten gegründet werden.

 

Die Darwin’sche Evolutionstheorie «Survival of the fittest» oder «Fressen oder gefressen werden» ist en vogue im Zeitalter der Digitalisierung. Was heisst das für die Schweizer Wirtschaft?

Das Rückgrat der Schweizer Wirtschaft sind die KMUs, nicht die Grossbetriebe. Sie sorgen für die meisten Arbeitsplätze. Viele dieser KMUs waren in den letzten Jahren aber angesichts der Frankenstärke stark gefordert. Gerade in der Industrie haben viele Firmen ungenügende Renditen erzielt oder sogar Defizite erwirtschaftet. Ein Teil der Firmen hat auch auf Kosten der Substanz gelebt. Das geht eine Weile gut, aber langfristig ist das natürlich nicht haltbar, da dann oft das Geld für echte Innovationen oder neue Produktionsmethoden fehlt. Das gipfelt dann in einer Abnahme der Wettbewerbsfähigkeit und letztlich geht dann auch die Zukunftsfähigkeit verloren.

 

Werden nicht die Chancen und Gewinne rund um die Digitalisierung und Automatisierung zugunsten der Shareholder und Stakeholder und vielfach zulasten der Arbeitnehmer, zum Beispiel mittels Entlassungen, ausgetragen?

Das wird noch viele Diskussionen auslösen, denn natürlich kommen die Gewinne der Digitalisierung in erster Linie jenen zugute, die über die Kapitalbereitstellung dafür gesorgt haben, dass die entsprechenden Prozesse in den Firmen eingeleitet und die entsprechende Soft- oder Hardware gekauft wurden. Wenn also in den Fabrikhallen vor allem Roboter stehen, dann wird der Gewinn daraus natürlich eher den Aktionären zugutekommen als den Arbeitern, die unter Umständen eh nur noch in verminderter Zahl vorhanden sind. Der Staat – also letztlich wir alle – müssen die Diskussion führen, ob man diese Gewinne nicht anders verteilen kann. Denn es kann nicht sein, dass am Schluss der Staat über die Arbeitslosenkassen die Modernisierung der Firmen bezahlt und die Unternehmensspitzen den Gewinn privatisieren.

 

Im Rahmen der Digitalisierung wird alles vernetzt und digitalisiert. Ist die Wirtschaft im Hinblick auf sicherheitstechnische Aspekte darauf ausreichend vorbereitet?

Ich glaube, dass es hier noch viele Defizite gibt. Vernetzungen bringen natürlich ein grosses Potenzial an ökonomischen Gewinnen – nur leider öffnen sich auch Tür und Tor für Sicherheitslücken. Viele Firmen gehen diese sehr offensiv an, andere sind noch nicht so weit. Insgesamt dürfte man eher davon sprechen, dass die Schweizer Unternehmen mittelmässig sensibilisiert sind. Denn wir dürfen nicht vergessen: Die meisten sicherheitsrelevanten Probleme entstehen nicht durch Maschinen, sondern die Schwachstelle ist oft der Mensch, meist aus Nachlässigkeit. Man muss nur einmal den Umgang mit Passwörtern beobachten und dann weiss man, dass Sicherheitslücken meist beim Mensch beginnen – ich nehme mich da nicht aus.

Die Schweiz hat im Bereich Cyber Security Nachholbedarf. Die Notwendigkeit einer nationalen Strategie zum Schutz der Schweiz vor Cyberrisiken (NCS) wurde erkannt. Wie kann die Wirtschaft dieses Bestreben unterstützen?

Natürlich haben die meisten Firmen inzwischen begriffen, wie anfällig die modernen Technologien auf Sicherheitsrisiken und Sicherheitslecks sind. Der neueste Datendiebstahl bei Swisscom hat vor Augen geführt, wie stark heute die Zukunft einer Firma davon abhängt, im Sicherheitsbereich keine Kompromisse zuzulassen. Eine Firma kann heute angesichts der Gefahren einen derartigen Reputationsschaden durch ein Datenleck erleiden, dass sie sich davon nicht mehr erholt. Damit sind Cyberrisiken definitiv auf der Stufe der gesamten Geschäftsleitung angekommen. Es gibt aber leider auch immer noch viele Firmen, die glauben, sie könnten sicherheitsrelevante Themen einfach an die Informatikabteilung abschieben. Dabei müsste sich das gesamte Management mit diesen Themen befassen – auch damit, wie man im Falle einer Cyberkrise reagiert. Hier sind Checklisten und Notfallübungen auf Geschäftsleitungsebene durchaus angebracht.

 

Datenpannen oder Hacks bei Unternehmen zeigen teilweise Kommunikationsdefizite auf, verursachen Reputationsschäden und mitunter auch massive Verluste an der Börse. Braucht es Neubewertungen von Unternehmen je nach Risiko und Exposition? Unter Berücksichtigung von vorhandenen Cyber Security Policies in den Unternehmen?

Die Anleger haben die Cyberrisiken leider noch nicht so gross auf ihrer Agenda – sehr zu Unrecht, denn Reputationsschäden wirken sich heute direkt auf den Börsenkurs aus. Innerhalb von Sekunden können Milliardenschäden entstehen – wenn nicht richtig kommuniziert. Leider stecken auch globalisierte Milliarden- Konzerne oft noch in den Kinderschuhen, wenn es um Kommunikation geht. Und gerade die Exposition von Cyberrisiken ist kommunikativ äusserst anspruchsvoll. Krisenkommunikation beginnt nicht erst in der Krise, sondern muss präventiv geschult und geübt werden. Verwaltungsräte tun heute gut daran, wenn sie ihr Topmanagement dazu anhalten, entsprechende Checklisten vorzubereiten und Trainings abzuhalten. Gute Kommunikatoren in der Krise fallen leider nicht vom Himmel – es ist alles eine Frage der Vorbereitung.

 

Die Digitalisierung fordert die Unternehmen, möglichst sicher mit ihren Daten umzugehen. Die Geschäftsprozesse und die Mitarbeitenden wiederum brauchen Flexibilität und Offenheit. Wie sollten sich die Akteure in diesem grossen und längst globalisierten Spannungsfeld verhalten?

Dieses Spannungsfeld ist das zentrale Arbeitsfeld der Zukunft, denn tendenziell dürften die Systeme eher offener werden, was die Einfallstore öffnet für Leute, die nicht nur Gutes im Sinne haben. Die Investitionen in die IT-Sicherheit werden für viele sensible Branchen deutlich zunehmen, aber vermutlich müssen wir uns alle daran gewöhnen, dass es die hundertprozentige Sicherheit nicht gibt. Gerade wir Konsumenten, die auch auf allen sozialen Medien unterwegs sind, müssen uns an die eigene Nase fassen, wenn unsere Daten abgesaugt werden. Vielleicht ist die Gegenstrategie heute: möglichst viel ins Netz stellen. Denn ist erstmals alles öffentlich, dann gibt’s kaum noch private Dinge, die gestohlen werden können. Oder man bleibt gleich ganz offline. Das ist vielleicht der letzte Luxus des 21. Jahrhunderts – auf online zu verzichten. Die Sensibilisierung muss beim Unternehmer und den zu befähigenden Mitarbeitern beginnen. Da stehen bekanntlich viele Unternehmen vor einigen zusätzlichen Herausforderungen und Investitionen. Die meisten verantwortlichen Unternehmer haben die Herausforderungen erkannt. Bei wem das noch nicht angekommen ist, der dürfte in den nächsten Jahren ohnehin Probleme bekommen. Viel wichtiger scheint mir, dass man die Mitarbeiter auf diesem Weg der Digitalisierung mitnimmt und die Ängste thematisiert und klar adressiert. Viele Firmenlenker haben hier grosse Defizite. Immer nur Disruption rufen und wunderbare Zukunftsvisionen entwerfen, nutzt nichts, wenn man seine Mitarbeiter nicht mit ins Boot holt. Hier gibt es noch gewaltige Defizite. Die Kommunikationsfähigkeit von gewissen Chefetagen ist leider sehr beschränkt.

 

Es stehen einige Regulationen an oder sind schon in Kraft, zum Beispiel beim Datenschutz und bei der Cyber Security (CH-DSG, EU-DSGVO/GDPR). Wie schätzen Sie hier den Stand der Schweizer Unternehmen ein?

Fast jeder Kongress in diesen Tagen beschäftigt sich mit dem Thema Digitalisierung – hier wird sehr viel informiert und diskutiert. Deutlich weniger diskutiert werden die Sicherheitsaspekte und disruptiven Auswirkungen. Wobei man auch nicht so tun sollte, als würde morgen mit einem Mal die ganze Welt auf den Kopf gestellt. So erschreckt man eher Mitarbeiter als dass man sie auf dem Weg mitnimmt. Die Digitalisierung würde ich eher als eine Evolution als eine Revolution beschreiben. Da bin ich sehr bei der letzten Studie von Avenir Suisse, die besagt, dass wir schon Jahre in einem Prozess der Digitalisierung stecken und dass dieser oft langsamer verläuft als viele meinen. Glücklicherweise – so haben wir nämlich Zeit, uns darauf einzustellen. Von dieser «Disruptions-Hysterie», mit der Unternehmensberater gerne ihre Kurse und Beratungen verkaufen, halte ich wenig.

 

Informationsethik und Privacy sind im Rahmen der Digitalisierung und im Zeitalter der Datenraffinierung mittels Big Data und künstlicher Intelligenz die vermeintlich letzten Bastionen. Wie schätzen Sie diese Aspekte ein?

Der gläserne Konsument ist leider keine Alptraumvision aus einem Science-Fiction-Film mehr, sondern Realität. Firmen tun allerdings gut daran, mit ihren mithilfe von Big Data gesammelten Daten ethisch korrekt umzugehen. Denn im Zeitalter der Datentransparenz und der globalisierten sozialen Medien führen Datenlücken ganz schnell zu weltweiten Reputationsproblemen. Viele Firmen haben heute eigentlich «Control-Rooms» eingerichtet, in denen sie überwachen, was weltweit in den sozialen Medien über sie berichtet wird. Datenlücken können eine Firma ruinieren, aber auch der unbedachte Umgang mit Daten oder flapsige Bemerkungen dazu können zu einer weltweiten Rufschädigung führen. Die Firmen müssen mehr in diesen Bereich investieren und auch stärker zusammenarbeiten. Denn Datensicherheit und Privacy sind firmenübergreifende Themen, die nicht nur unternehmensspezifisch angegangen werden können.

 

Sie sind ein aktiver Influencer in den sozialen Medien. Ist es wirklich ein Vorteil, dass die Digitalisierung genau jetzt stattfindet, in einer Zeit, in der die Babyboomer in Pension gehen?

Das halte ich für einen grossen Vorteil, denn tatsächlich werden sich in den nächsten Jahren in der Schweiz hunderttausende Babyboomer – ich gehöre auch dazu – vom Arbeitsmarkt zurückziehen. Gleichzeitig wird die Digitalisierung ganz sicher auch den einen oder anderen Job kosten. Wir sehen das beispielsweise gerade in den Medien, wo Journalisten-Jobs immer rarer werden, da die Digitalisierung den ganzen Mediensektor völlig umkrempelt – und heute immer mehr Werbung zu Google und Facebook geht. In einer solchen Situation ist es sicher eine Erleichterung, dass nicht allzu viele Junge auf den Arbeitsmarkt drängen. Das wird die Situation entspannen – und auch die Ängste vor der Digitalisierung etwas relativieren.

 

Persönlich: Reto Lipp (Jahrgang 1960) hat in Zürich Wirtschaft studiert und ist seit über 30 Jahren Wirtschaftsjournalist. Er leitete unter anderem den Finanzteil der «Handelszeitung» und war später Chefredaktor des Finanzmagazins «Stocks», das auf seine Initiative hin im Jahr 2000 gegründet worden war. Nach einem Abstecher als Kommunikationsfachmann zum UBS Wealth Management (2006) kehrte er in die Medien zurück und moderiert seit 2007 das Wirtschaftsmagazin «Eco» beim Schweizer Fernsehen.

 

Infos zum Autor: Das Interview mit Reto Lipp führte Fridel Rickenbacher. Er ist Mitbegründer und Partner der MIT-GROUP, Mitglied der Redaktion des Verbandes swissICT und bekannt unter seinem Credo «sh@re to evolve». www.mit-group.ch oder fridelonroad.wordpress.com

Autor
Fridel Rickenbacher
Mitbegründer und Partner der MIT-GROUP