Serie: Agiles Arbeiten (2/2)
Wissen

Ist agiles Arbeiten gesund?

Von Marina Schulz | 23.06.2021
Agilität hilft, komplexe Aufgaben in noch kürzerer Zeit zu bewältigen. Mehr Verantwortung bedeutet allerdings auch mehr Druck und Stress – kann das wirklich gesund sein? Ein Experte gibt Antwort.

Im ersten Teil dieser Serie haben wir mit vier Personen gesprochen, die am IBAW die Ausbildung zum Agile Coach abgeschlossen haben und in Unternehmen arbeiten, die agil organisiert sind.

Sandro Dönni, Dozent am IBAW für die Ausbildung zum Agile Coach, analysiert die Aussagen der interviewten Personen und gibt Antworten zur Frage: Wie gesund ist agiles Arbeiten?

Sandro Dönni, ist agiles Arbeiten gesund?

Es kommt drauf an, wie man so schön sagt, in welchem Setting die Agilität stattfindet. Pauschal kann ich nicht sagen ob gesund oder ungesund. Es gibt Bedingungen, bei welchen agiles Arbeiten gesund sein kann, zum Beispiel wenn die Mitarbeiter*innen ausreichend Handlungsspielraum haben, wenn ein klares Vorgehen besteht und wenn es definierte Rahmenbedingungen gibt. Agiles Arbeiten ist auch dann gesundheitsfördernd, wenn die Mitarbeitenden durch neue Arbeitstechniken und durch eine offene Arbeitskultur abgeholt werden und mitreden können. Es gibt aber auch das Gegenteil: Bei einer Umstellung zum agilen Arbeiten wird das Arbeitsumfeld schneller und dynamischer, das kann zu Beginn Druck und Stress erzeugen. Stimmen die Rahmenbedingungen nicht, werden zum Beispiel Arbeitsschritte nach wie vor detailliert kontrolliert oder nicht die passenden Arbeitstools verwendet, dann würde ich Agilität als ungesund beschreiben. Mit agilen Techniken wie z.B. Kanban, lernt man zu priorisieren, auch nein zu sagen. Zusammenfassend ist agiles Arbeiten dann gesund, wenn es strukturiert geschieht, man sich im Team wohlfühlt, eine offene Unternehmenskultur existiert und wenn Hygienefaktoren wie Erholungszeiten stimmen.

Mehr Verantwortung, schnellere Entscheidungen und flexibles Arbeiten, diese Vorteile nennen die vier Befragten. Doch sie sind sich einig, seit der Umstellung ist der Druck gestiegen. Ist das typisch?

Man muss zwischen temporärem und längerfristigem Druck unterscheiden. Wird eine Transformation im Unternehmen angestrebt, läuft das Kerngeschäft ja trotzdem weiter. Gleichzeitig muss man alte Prozesse und Techniken «entlernen» und Neues erlernen. In dieser Phase wird sehr viel von den Mitarbeitenden erwartet und das ist anstrengend. Vergleichbar, wie wenn man eine neue Stelle antritt: da ist am Anfang die Erwartung an einen selbst hoch, dazu viele neue Informationen, die man verarbeiten muss. Das ist ermüdend und herausfordernd. Dann stellt sich auch die Frage, ob Druck entsteht, weil mehr Verantwortung übernommen werden muss/darf oder ob die Mitarbeitenden sich unsicher fühlen. Viele freuen sich, mehr Verantwortung zu tragen, aber es ist nicht immer einfach und zu Beginn ungewohnt. Plötzlich steht nicht mehr der*die Vorgesetzte im Mittelpunkt, sondern die Person selbst. Daran muss man sich zuerst gewöhnen. Mitarbeiter*innen müssen in diese Rolle reinwachsen, sich entwickeln und lernen, dass man Fehler machen darf. Dazu kann sozialer Druck durch die Digitalisierung entstehen: man will vielleicht immer erreichbar sein, gerade wenn man neue Verantwortlichkeiten hat. Deshalb ist es nicht selten, dass mehr Druck wahrgenommen wird und die Personen lernen müssen mit den neuen Anforderungen umzugehen. Gleichzeitig bekommt man dabei aber auch viel zurück und kann sich persönlich entwickeln.

Wie erklärst du, dass die Arbeitsbelastung zunimmt?

(lacht). Das ist eine gute Frage. Ich frage mich, ob es eine Belastung ist im Sinne von zu viel Arbeit oder eine Belastung, weil es schneller gehen muss. Arbeitet man agil, kann man sich mehr einbringen, man sieht in mehr Bereiche und kommt so selbst auf viele neue Ideen, die man selten alle umsetzen kann. Zusätzlich muss jedes Teammitglied selbst priorisieren und sich abgrenzen, was vor der Umstellung meist durch eine*n Vorgesetzte*n erledigt wurde. Somit kann es gut sein, dass die Arbeitsbelastung nach der Umstellung für einen gewissen Zeitraum höher ist.

Auch die Umstellung erlebten sie als anstrengend. Was gilt es für Unternehmen bei der Umstellung auf agil zu beachten, damit kein Chaos ausbricht?

Ich versuche bei meinen Mandaten immer, sehr schnell die Verantwortlichkeiten für den Veränderungsprozess zu klären und dafür zu sorgen, dass dafür auch Ressourcen geschaffen werden. Es braucht von Anfang an Ansprechpersonen. Und das wichtigste: die Kommunikation! Diese muss massiv hochgefahren werden. Wenn ein Projektteam das Gefühl hat, es kommuniziert schon sehr viel, dann ist das in den meisten Fällen immer noch deutlich zu wenig. Es geht dabei nicht nur um die Information, sondern vor allem auch um den Dialog. Das geht oft vergessen. Alle involvierten Personen, sollen wissen, was das Ziel ist und wie die Rahmenbedingungen aussehen. Um das Chaos zu vermindern, hilft sicher auch ein Aussenblick von einer externen Person, die Ruhe und Struktur in das Projekt bringen kann. Eine Transformation hat wohl immer einen chaotischen Teil, es muss aber Fixpunkte und Meilensteine geben. Ebenfalls darf nicht vergessen werden, dass ein kultureller Wandel Zeit braucht. Das passiert nicht in ein paar Wochen. Mitarbeitende und ihre Bedürfnisse müssen abgeholt werden. Als Mitarbeiter*in möchte ich bei einer Transformation partizipieren und aktiv eine Rolle spielen. Dazu gehört, dass man gemeinsam an der Zukunft des Unternehmens arbeitet, und dieser Entwicklung auch Raum gibt. Für mich ist der offene Dialog in diesem Zusammenhang zentral, da eine grundlegende Umstellung anspruchsvoll ist und immer auch zu Unsicherheiten führt.

Denkst du, agil hilft gegen Frust oder Lustlosigkeit am Arbeitsplatz?

Was gegen Frust am Arbeitsplatz hilft, sind vollständige, spannende Aufgaben mit ausreichend Handlungsspielraum. Eine offene Unternehmenskultur mit inspirierenden Menschen, mit denen zusammengearbeitet wird. Da kann die Agilität sicher viel dazu beitragen. Aber auch beim agilen Arbeiten gibt es zwischenmenschliche Themen. Agil allein hilft also nicht, um Frust beim Job zu verhindern.

Alle vier sagen, dass sie Veränderungen mögen. Wie ist eine solche Umstellung für Mitarbeiter*innen, die Veränderungen eher ablehnen? Der Mensch ist ein Gewohnheitstier…

Du sagst es richtig. Menschen lehnen Veränderungen grundsätzlich ab, das liegt in unserer Natur. Es gibt unzählige Experimente, die das zeigen, zum Beispiel «Status Quo Bias»: wir wählen immer Situationen, die wir kennen, auch wenn wir wissen, dass die neue Situation besser wäre. Wir haben nicht gerne Veränderungen, dennoch haben wir den Drang, uns zu verbessern und zu entwickeln. Menschen, die Veränderungen gut annehmen, haben damit vermutlich auch gute Erfahrungen gemacht. Dennoch haben auch Mitarbeiter*innen, die Veränderungen eher negativ gegenüberstehen, gute Chancen: Ich habe schon erlebt, dass die grössten Skeptiker*Innen in einem Team zu Promotoren der Agilität wurden, weil sie miteinbezogen wurden und ihre Stimme Gehör fand. Ich verstehe auch, dass eine Veränderung Angst auslösen kann. Führungspersonen verlieren damit vielleicht Macht und befürchten eine Einbusse ihres Status. Ich finde es deshalb essenziell, dass man alle Involvierten abholt und einen offenen Dialog ermöglicht. Man begibt sich gemeinsam auf diesen Weg und nimmt alle mit. Agilität sollte eine Unternehmenskultur schaffen, in der man Probleme oder Unsicherheit ansprechen kann, ohne dabei sein Gesicht zu verlieren. Viele Personen sind bereit für einen Change oder wünschen ihn sich sogar, wenn sie das Warum dahinter verstehen und wenn sie miteinbezogen werden. Ich bringe hier auch gerne die Ambiguitätstoleranz ein: wie gehe ich mit unangenehmen Situationen um? Wir müssen uns an unser Urvertrauen, erinnern und überzeugt sein, dass wir alles zum Guten gestalten können

Sie arbeiten in einer Digitalagentur – und natürlich agil. Das ist

…für mich nahe am Idealbild, da wir selbstorganisiert sind. Es ist dadurch so vieles möglich, weil Ideen aus allen Ecken kommen und jede*r sich einbringen kann. Ich bin überzeugt, dass unsere Zukunft diese Arbeitsweise fördern wird. Hierarchien, wie sie bei der Industrialisierung eingeführt wurden, waren damals wichtig und erfolgreich, passen aber nicht mehr zur Wissensarbeit von heute. Im Gegensatz zu damals haben wir heute sehr gut ausgebildete Mitarbeitende, denen man nicht vorschreiben muss, was sie tun sollen. Passende Rahmenbedingungen reichen aus und sind der Schlüssel, um das Potential von Personen und Teams zu nutzen und gute Ergebnisse in einem dynamisierten Umfeld zu erzielen. Ich denke, dass wir einer «agilen Welt» mit agilen Arbeitsmethoden begegnen müssen, um die zukünftigen Herausforderungen erfolgreich zu meistern. In den nächsten fünf bis zehn Jahren wird in diesem Bereich viel passieren. Unsere Arbeitswelt wird sich in einer Weise verändern, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen können und neben einigen Herausforderungen auch riesige Chancen bieten.

Studiengang Agile Coach

Ein Versprechen für die Zukunft: Der Studiengang Agile Coach NDK HF dauert ca. 7 Monate und ist modular aufgebaut. Nächster Start ist am 27. September in Luzern.

Infoveranstaltung höhere Berufsbildung

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Über den Experten

Sandro Dönni ist Dozent am IBAW für die Ausbildung zum Agile Coach und arbeitet als Principal Consultant bei der Digitalagentur UNIC, wo er namhafte Unternehmen in den Bereichen Selbstorganisation, Agilität, Digitalisierung und in grossen Transformationsvorhaben unterstützt und begleitet.

Sandro Dönni
Autorin
Marina Schulz
Marketing/Kommunikation